Neutralität und multipolare Weltordnung

Peter Berger

Peter Berger, Trésorier der Weltunion der Freidenker

Der Neutralitäts-Status wird derzeit sowohl in der Schweiz wie in Österreich kontrovers diskutiert. Wie stehen dabei die Fronten? Wie glaubwürdig ist die Neutralität der beiden Länder vor dem Hintergrund ihrer Geschichte und ihrem Handeln in der gegewärtigen Krise? Ergeben sich aus dem Entstehen einer multipolaren Weltordnung neue Perspektiven für neutrale Staaten?

von Peter Berger

Was ist Neutralität? Neutralität und Neutralitätspolitik sollten auseinandergehalten werden. Neutralität als staatsrechtlicher Zustand und Neutrali­täts­politik als dessen praktische Umsetzung. Neutralität als solche heißt zunächst nur einmal, dass sich ein neutraler Staat nicht an Kriegen beteiligt und keine Stationierung fremder Truppen auf seinem Territorium zulässt, was wiederum bedingt, dass er sich bewaffnet. Bei der Neutralitätspolitik geht es dagegen um die Ausgestaltung der Neutralität, um die Frage, wie aktiv oder passiv die Politik sein soll (z. B. durch Erbringung guter Dienste und Vermittlungsanstren­gungen), wie weit außenpolitische Anpassungen an veränderte Rahmen­bedingungen unternommen werden sollen, und es geht bei der Neutralitäts­politik auch um ihre Glaubwürdigkeit, zum Beispiel indem die nötige Äqui­distanz zu den Kriegsparteien gehalten wird. Außerdem sollte man auch noch darauf achten, Neutralität von Blockfreiheit zu unterscheiden. Blockfreiheit schließt die Beteiligung an Kriegen nicht aus.

Sowohl in Österreich als auch in der Schweiz hat sich die Debatte in der Neutralitätspolitik seit der Verschärfung der Ukraine-Krise polarisiert. Die Frontenbildung ist ähnlich. In beiden Ländern spielen sich national-konservative Kräfte als Verteidiger der Neutralität auf. In Österreich wirft die FPÖ mit scharfer Rhetorik allen andern Parlamentsparteien vor, sie hätten mit ihrer Unterstützung der Russland-Sanktionen die Neutralität verraten und die Souveränität der Republik aufs Spiel gesetzt. Unklar ist, wieweit diese Haltung ernst gemeint ist, oder wieweit sie der Profilierung im Hinblick auf die sich ankündigenden Wahlen geschuldet ist. In den 1990er-Jahren hatte sich die FPÖ noch kritisch gegenüber der Neutralität positioniert. Heute sind es Teile der konservativen ÖVP und der Grünen, die mit der Neutralität nicht mehr viel am Hut haben, oder, wie die neoliberalen Neos, die Neutralität ganz zugunsten eines Beitritts zur Nato und einer Europa-Armee abstreifen möchten. Sogar der ÖVP-Bundeskanzler Nehammer stimmte kurzzeitig in dieses Konzert ein, indem er im März 2022, als die Neutralitätsdiskussion besonders emotional geführt wurde, die Bemerkung fallenließ, die österreichische Neutralität sei unter einem Druckszenario zustande gekommen. Gezielt war die Bemerkung auf den Staatsvertrag, der Österreich 1955 nach der Besatzungszeit wieder die Souveränität brachte. Die Sowjetunion hatte damals die bewaffnete Neutralität nach Schweizer Vorbild zur Bedingung gemacht. Nehammer relativierte damit nicht nur die Neutralität, sondern aktivierte damit wieder einmal die alte österreichische Opfer-Legende, wonach die Republik zu einer ewigen Opfer-Rolle verurteilt sei. So wird in der Kontinuität der Opfer-Legende auch die Bedingung des Staatsvertrags als eine Kröte gesehen, die geschluckt werden musste, um die Fremdbestimmung los werden zu können. Eine eher pragmatische Neutralitätspolitik vertritt vor allem die Sozialdemokratie. Hier wird vielfach der Außenpolitik der Ära Kreisky nachgetrauert, deren friedenspolitische Initiativen und Beiträge zur Konfliktbeilegung auf einer aktiven Neutralitätspolitik basiert hatten. Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Das war noch vor dem Souveränitätsverlust durch den Beitritt zur EU und der Teilnahme an Partnership for Peace der Nato.

Hatte die Schweiz 2014, als der Westen wegen des Beitritts der Krim zur Russischen Föderation Sanktionen beschloss, dem Druck aus der Nato noch widerstanden, war das nach der Intervention Russlands im Februar 2022 anders. Die Schweizer Regierung hat sehr rasch mitgezogen. Da war ein durchgeknallter Außenminister am Werk, ein 150%-Atlantiker, der früher unter anderem auch schon mal damit aufgefallen war, dass er die Zahlungen an das palästinensische Hilfswerk der Uno, UNRWA, eingestellt hat, angeblich wegen Unregelmäßigkeiten. Mit dem Ukraine-Konflikt sah er nun seine Stunde gekommen, endlich einmal eine Rolle in der Weltpolitik spielen zu können, und ließ kein internationales Treffen und keine Konferenz aus, die im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise stand. Aber seine Hoffnung, dass die Schweiz unter seiner Führung in diesem Konflikt eine Vermittler-Rolle übernehmen könnte, musste er nach einer kalten Dusche Moskaus begraben. Dieses machte ihm klar, dass die Schweiz nach der Übernahme der Sanktionspakete für Russland als Vermittlerin nicht in Frage kommen könne. Die Glaubwürdigkeit der schweizerischen Neutralitätspolitik hat damit einen unermesslichen Schaden erlitten.

Einige internationale Aufmerksamkeit zog die Schweiz etwas später in der Frage der Kriegsmateriallieferung auf sich. Und zwar geht es um Waffen, die ans Ausland verkauft wurden. Für deren Weiterverkauf an ein Drittland ist eine Bewilligung der Schweizer Behörden notwendig. Diese konnte nicht erteilt werden, da das Kriegsmaterialausfuhrgesetz der Schweiz den Verkauf und Weiterverkauf von Waffen in Staaten, die in Kriege verwickelt sind, verbietet. Es ging unter anderem um die Munition für deutsche Panzer, die an die Ukraine geliefert werden sollten. Die Regierung ist seither einem gewaltigen Druck der Nato und den dazu instrumentalisierten Medien ausgesetzt. Pikanterweise wurde dieses Gesetz erst im vergangenen Jahr novelliert, und zwar als Gegenvorschlag der Regierung und der Parlamentsmehrheit gegen eine weiter gehende Volksinitiative. Seither wird laviert und überlegt, wie man sich aus der Affäre retten könnte. Inzwischen sind es vor allem sozialdemokratische und grüne Parlamentarier die sich zuvorderst für die Waffenlieferungen aussprechen und eine bellizistische Haltung an den Tag legen, die aufgrund ihrer Parteiprogramme und früher gemachten Auslassungen eigentlich nicht hatten vermutet werden können. Inzwischen wurde dem Druck nachgegeben, und man arbeitet an der Revision des Gesetzes, um die Lieferungen doch noch zu ermöglichen.

Einen Eklat gab es im Parlament bei einer Debatte über das veraltete englische Boden-Luft-Abwehrsystem «Rapier» – eine mittelalterliche Raketentechnik –, das zur Verschrottung freigegeben wurde. Diese Geräte würden der Ukraine doch noch wertvolle Dienste erweisen, fand die Kriegergarde des Parlaments, orchestriert mit der Mainstreampresse, und griff die Regierung deswegen an. Als der sozialdemokratische Regierungschef bei der Verteidigung der Verschrottungsaktion, auch unter Hinweis auf die Neutralitätsverpflichtung, beiläufig bemerkte, «in gewissen Kreisen» stelle er einen «Kriegsrausch» fest, hagelte es Kritik, und sein Parteivorsitzender liess ihm per Medien ausrichten, man stehe in diesem Krieg «in einem Konflikt zwischen der freien Welt und einem autoritären Regime», und: «Wir haben mit Russland eine imperialistische, ich würde sogar meinen, protofaschistische Macht».

Gegen die Sanktionen stellt sich die national-konservative Schweizerische Volkspartei, gestützt auf ihr Verständnis von Neutralität. Die Partei hat eine Volksinitiative lanciert, welche die Neutralität sowie das Verbot «nichtmilitärischer Zwangsmassnahmen gegen kriegführende Staaten» in der Bundesverfassung verankern will. Derzeit läuft die Unterschriftensammlung. Bei jenem Teil der Linken, der nicht auf Nato-Kurs ist, stellt sich die Frage, ob die Initiative unterstützt werden soll, spätestens dann, wenn es zur Volksabstimmung kommt. Auch wenn dem von der Sache her kaum etwas entgegensteht, fällt vielen eine informelle Allianz in dieser Frage nicht leicht. Linke stehen für eine offene und aktive Neutralität, während die SVP sie mit Abschottung verbindet, einer völlig mystifizierten Vorstellung von Neutralität huldigt und dabei nicht sehr konsequent ist. Der in der italienischsprachigen Schweiz verankerte Partito comunista sowie die Partei der Arbeit Basel beteiligen sich unterdessen an der Unterschriftensammlung.

Die kanonische Überhöhung der schweizerischen Neutralität ist erst im 20. Jahrhundert entstanden. Als die Neutralität am Wiener Kongress der Schweiz durch die Großmächte verordnet wurde, nahm man sie nicht sehr ernst. Sonst hätte man nicht noch im selben Jahr bei der erstbesten Gelegenheit vier militärische Vorstöße in die französische Freigrafschaft unternommen. Besonders die Erfahrung, inmitten Europas zwei Weltkriege überstanden zu haben, ohne hineingezogen zu werden, hat eine Legende entstehen lassen, dies sei allein der Neutralität und der entschlossenen Wehrbereitschaft des Landes zu verdanken. Das Narrativ entwickelte sich so weiter, dass die Neutralität mit der Zeit als genuin schweizerische Lebensweisheit, geboren aus höherer Einsicht, gehandelt wurde. Das hat zeitweise zivilreligiöse Züge angenommen. Der Fakt, dass die Neutralität eine 1815 von den Großmächten autoritär über die Schweiz verfügte Formel ist, entschwand so vielerorts aus dem kollektiven Bewusstsein. Erst mit dem Bespitzelungs-Skandal und den Enthüllungen über die nachrichtenlosen Vermögen von Verfolgten des Nazi-Regimes in den 1990er-Jahren begann der Neutralitäts-Mythos seinen Zauber zu verlieren.

Die Neutralität, wie sie gerade während der beiden Kriege praktiziert wurde, wird dem lange – von der national-konservativen Rechten bis heute – gepflegten Narrativ vom Neutralitäts-Mythos nicht gerecht. Sie hat den Aktionären der kriegswichtigen Exportindustrie fette Gewinne eingebracht. Ein Branchenbericht aus dem Ersten Weltkrieg:
«Der relativ bescheidenen Vorkriegsindustrie der Schweiz in Eisen- und Kupferwaren hat der Krieg eine mächtige Bereicherung und ganz außerordentliche Beschäftigung in vielen ihrer bisherigen Betriebsrichtungen gebracht. Darüber hinaus aber hat er durch seinen unermesslichen Munitionsbedarf den Kreis dieser Industrien hauptsächlich nach drei Seiten hin in ungeahnter Weise erweitert:
1. durch den gewaltigen Bedarf an Stahlmänteln für Artilleriegeschosse: Granaten-, Haubitzen-, Schrapnellhülsen etc. und andererseits
2. an genau tempierten Schrapnellzündern und andern Geschossteilen aus Kupfer, Zink, Aluminium etc.
3. Sodann durch die mächtige Förderung der Herstellung von Elektrostahl in der Schweiz.»

Neutralität als Geschäft schon im Ersten Weltkrieg! Demgegenüber begann die Bevölkerung immer mehr unter der Kriegsteuerung und den fehlenden Familieneinkommen aufgrund der langen Abwesenheit der Wehrmänner zu leiden, bis sich schließlich die sich stetig verschärfenden sozialen Gegensätze in den Novembertagen 1918 in einem dreitägigen landesweiten Generalstreik entluden.

Im Zweiten Weltkrieg wurden die Bedingungen für die Neutralität der Schweiz schwierig, nachdem das Land ab Juni 1940 vollkommen von den Achsenmächten umgeben war. Ihre Versorgung war auf Gedeih und Verderb von den faschistischen Mächten abhängig. So kam am 9. August 1940 in Berlin ein Handelsvertrag zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich zustande. Es ging in diesem Vertrag, wie der Historiker Hans Ulrich Jost schreibt, «im Wesentlichen darum, die Industrie und die Finanzkraft der Schweiz an die deutsche Kriegswirtschaft anzudocken. Zentraler Punkt des Abkommens war ein von der Schweiz gewährter Kredit, den Deutschland insbesondere für den Ankauf von Kriegsmaterial einsetzte. Mit den Verträgen war die Schweizer Wirtschaft praktisch in die deutsche Kriegswirtschaft integriert. Ich zitiere nochmals Jost: «Deutschland brauchte dringend Devisen und eine gesicherte und exklusive Zusammenarbeit mit der schweizerischen Industrie, sowie freien Zugang zu den Alpentransversalen. Die Schweiz sollte auch den Handel mit den gegen Deutschland im Krieg stehenden Ländern abbrechen. Berlin verzichtete jedoch auf eine de-jure-Verpflichtung, da Bern bereit war, de facto entsprechende Ausfuhren zu verhindern.»

Eine besonders krasse Verletzung der Neutralitätspflicht durch die Schweiz ist die Entsendung von sogenannten Ärztemissionen an die deutsche Ostfront. 60 Schweizer Militärärzte und Krankenschwestern verbrachten ab 1. Oktober 1941 – unter dem Patronat des Schweizerischen Roten Kreuzes – als Freiwillige einen dreimonatigen Einsatz in Smolensk. Sie waren in die Befehlsstrukturen der Wehrmacht einbezogen und durften ihre medizinische Hilfe nur deutschen Staatsbürgern zukommen lassen. Die wurden zum teil auch Zeugen von Gräueltaten. Es war ihnen aber verboten, nach ihrer Rückkehr darüber zu berichten. Dieser Mission folgten bis März 1943 drei weitere Missionen in Stalino, Saporischja und Juchnow.

Diesen beiden erwähnten Fällen liessen sich noch viele weitere beifügen. Es liessen sich ferner viele Beispiele aus der Zeit des Kalten Krieges anführen, in denen, zum Beispiel in Sachen Zusammenarbeit mit Geheimdiensten, nicht im Sinne der Neutralität gehandelt wurde. Oder wenn alten Nazigrössen, die unterdessen im Dienste der Adenauer-Regierung ihre Karriere fortsetzten, der Hof gemacht wurde, während Antifaschisten Auftrittsverbote erhielten.

Zunehmend zur Farce wird die Schweizer Neutralität aber in jüngster Zeit, vor allem im militärischen Bereich, wie selbst in militärischen Fachzeitschriften festgestellt wird. Das begann mit dem Beitritt zu Partnership for Peace. Die Schweizer Armee wird zügig auf Nato-Format gebracht: Führungs-Reglemente, militärische Infrastruktur, Kriegsmaterial. Der neuste Fall ist die Beschaffung von 36 F35-Kampfflugzeugen von Lockheed Martin. Diese Flugzeuge könnten im Ernstfall nicht gegen die Interessen der USA eingesetzt werden, weil sie vom Hersteller jederzeit deaktiviert werden können! In der Kritik steht auch eine enge Rüstungs-Zusammenarbeit mit Israel.

Die Schweiz wird auch im Zivilbereich immer mehr zum Vasall der USA, zum Beispiel mit der extra-territorialen Anwendung von US-Sanktionen durch die Schweizer Banken. Sie wickeln unter Berufung auf die US-Wirtschaftsblockade z. B. gegen Kuba keine Geldtransaktionen ab, wenn sie etwas mit Kuba zu tun haben, um ihre US-Geschäfte nicht zu gefährden. Und zwar auch dann, wenn es sich um eine Transaktion innerhalb der Schweiz handelt, zum Beispiel den Mitgliederbeitrag für die Solidaritätsorganisation Vereinigung Schweiz-Cuba. Sobald das Wort «Kuba» im Absender- bzw. Empfängernamen oder auch nur im Zahlungsvermerk auftaucht, wird die Zahlung retourniert. Es wurden Petitionen eingereicht, parlamentarische Vorstöße veranlasst. Die Regierung verschanzt sich jedoch hinter dem Scheinargument, sie könne sich nicht in privatrechtliche Angelegenheiten einmischen… Nicht einmal bei den staatlichen Banken.

Welche Bedeutung können nun die Erfahrungen neutraler Staaten im Hinblick auf eine zukünftige multipolare Weltordnung haben? Man sollte die Neutralität vielleicht in einen Bezug zur Souveränität des Staates stellen. Die Erfahrungen der Schweiz zeigen, dass sie nur dann die Möglichkeit hatte, eine aktive, dem Frieden dienende Rolle zu spielen, wenn sie nicht einem hegemonialen Umfeld ausgeliefert war, sie also einigermaßen souverän handeln konnte. Wenn nun letzthin von einem (sozialdemokratischen) Alt-Politiker gesagt wurde, die Schweiz sei nicht deshalb vom Krieg verschont geblieben, weil sie neutral war, sondern deshalb weil sie nicht neutral war, ist das zwar nicht unzutreffend. Es wäre aber falsch, deswegen die Neutralität über Bord zu werfen. Viel mehr spricht das für eine multipolare Weltordnung, in der kleine Staaten nicht mehr zum Vasallentum eines Hegemons verurteilt sind. Aber, das möchte ich zum Schluss festhalten: solange die Schweiz wie auch Österreich kapitalistische Staaten sind, wird der Staat als Überbau ihrer Volkswirtschaften seine Politik, auch die Neutralitätspolitik, in den Dienst des Kapitals stellen. Aber vielleicht eröffnet die neue multipolare Weltordnung auch hier neue Perspektiven für eine Veränderung.

Peter Berger