Beitrag von PETER BERGER an der WUF-Tagung vom 15. bis 17. August in Győr
Soweit es in Europa überhaupt noch Staaten gibt, die wenigstens formell als neutral bezeichnet werden können, zeigt sich überall ein ähnliches Bild. Die politischen Eliten dieser Länder sind mit mehr oder weniger großem Eifer dabei, den Neutralitätsstatus ihrer Länder zu untergraben und die Souveränitätsinteressen ihrer Völker schwer zu schädigen, indem sie ihn der Doktrin des imperialistischen Militärpakts unterordnen.
Der Ausverkauf der Interessen von oben ist in vollem Gange. Widerstand muss von unten kommen.
Interessant ist es, den derzeitigen Neutralitätsdiskurs in Irland zu verfolgen. Dort ist die Regierung dabei, Hand an eine besondere Vorrichtung der Neutralitätssicherung zu legen, den Triple Lock. Es handelt sich dabei um eine dreifache Absicherung des Neutralitätsstatus, die sich das EU-Land mit der Ablehnung der Referenden über die EU-Verträge von 2001 und 2007 erkämpft hat. Dem Nizza-Vertrag zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik hatten die Iren erst in einem zweiten Urnengang zugestimmt, nachdem dem Land der Triple Lock zugestanden wurde. Das heißt: Auslandeinsätze von mehr als 12 irischen Soldaten sind an die Bedingung geknüpft, dass 1. die Regierung und 2. das Parlament zustimmen und 3. ein Beschluss des Uno-Sicherheitsrats vorliegt. Auch dem Lissabon-Vertrag stimmten die Iren (im zweiten Anlauf) erst zu, nachdem der Triple Lock bekräftigt worden war.
Nun aber will die Regierung Irlands den Triple Lock weichkochen. Ein Parlamentsbeschluss für Auslandseinsätze soll neu erst ab 50 Mann nötig sein, und es würde dazu auch keinen Beschluss des Uno-Sicherheitsrates mehr brauchen; die Entsendung der Truppen soll nur «noch mit der Charta der Vereinten Nationen» übereinstimmen, was die Einsatzmöglichkeiten beträchtlich erweitern würde. Bei den in der Classe politique der EU hochkochenden Kriegsphantasien verheißt das nichts Gutes.
Aber: auf die Iren kann man sich verlassen. Sie haben eine lange Geschichte des antikolonialen Kampfes. Es formiert sich ein breiter, inner- und ausserparlamentarischer Widerstand gegen die Aufweichung des Triple Lock. Das Volk möchte die bisher geltende Sicherung für Auslandseinsätze beibehalten; sie sollen wie bisher auf Friedenssicherung eingeschränkt bleiben, und die Neutralität soll das Land auch in Zukunft aus ausländischen Kriegen heraushalten.1
Im Fluss ist auch die Diskussion über die Neutralitätspolitik in den beiden zentraleuropäischen Staaten, die sich offiziell noch immer als neutral verstehen, Österreich und Schweiz. Sie beide haben einen großen Teil der Glaubwürdigkeit ihrer Neutralität verspielt, obwohl sie beide als Standort von Uno-Einrichtungen prädestiniert wären, gerade in europäischen Konflikten eine neutrale Vermittlerrolle zu spielen, wie das vor 1990 für beide Länder noch zutraf. Ganz zu Beginn der russischen Spezialoperation in der Ukraine war der damalige österreichische Bundeskanzler zwar nach Moskau gereist und hat Aufrechterhaltung der Gesprächsbereitschaft mit Russland signalisiert. Aber er hat nichts daraus gemacht, und seine Regierung hat rasch wieder nahtlos das Nato-Narrativ vom «völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg» übernommen. Die EU-Sanktionen wurden von seiner Regierung widerspruchslos befolgt, der Transit von Nato-Ausrüstung für die Ukraine durch das eigene Territorium bewilligt und schließlich der Beitritt zum Sky-Shield-Projekt beschlossen. Mit der Beteiligung der Ultraliberalen in der jetzigen Regierung hat sich der Nato- und EU-Kurs noch verstärkt.
Man würde meinen, als Nicht-EU-Mitglied müsste die Schweiz mehr Spielraum haben, um dem Druck aus Nato-Brüssel zu widerstehen und die traditionelle und bewährte Neutralitätspolitik aufrecht zu erhalten. Davon ist gar nichts zu spüren. Es ist müßig zu rätseln, wie weit diese Entwicklung auf den massiven atlantischen Druck zurückzuführen ist oder auf gesteigerte Willfährigkeit und Anpassung der heutigen politischen Eliten. Unübersehbar ist, dass führende politische Ämter auch in der Schweiz systematisch mit Young Global Leaders und anderen Erzeugnissen atlantischer Netzwerke besetzt werden. Tatsache ist, dass die Zusammenarbeit und die Harmonisierung der Schweizer Armee mit der Nato immer enger, die Verbundenheit der Armeekader mit den Kommandostrukturen des Pakts immer intimer wird. Es gibt Anzeichen, dass dies von der Nato inzwischen gezielt zur Einflussnahme auf die Besetzung von Spitzenposten in der Schweizer Verwaltung benutzt wird.2
Die Verletzung des Neutralitätsprinzips hat allerdings nicht nur eine militärische Komponente. Der zivile Sektor ist ebenso davon betroffen. In dieses Kapitel gehört etwa der Unwille der Landesregierung, die extraterritoriale Anwendung der US-amerikanischen Blockadepolitik auf die Schweiz abzuwehren. Die völkerrechtswidrige Sanktionspolitik der US-Regierung z. B. gegen Kuba wird von der Regierung in Bern offen unterstützt. Sie weigert sich beharrlich, Maßnahmen zu ergreifen, die Schweizer Banken zwingen, den Geldverkehr mit betroffenen Staaten aufrecht zu erhalten. Davon sind nicht nur die Völker dieser Länder, sondern dort lebende und wirkende Schweizer Ex-Pats und Handelsfirmen betroffen. Der Kniefall dieser Banken gegenüber den USA geht so weit, dass sie sogar im inner-schweizerischen Zahlungsverkehr Geldüberweisungen ihrer Kunden nicht ausführen, wenn sie auch nur den kleinsten Bezug zu Kuba haben. Ist die bloße Zahlung eines Mitgliederbeitrags oder einer Spende an eine Einrichtung der Kuba-Solidarität oder zum Beispiel mediCuba, immer Organisationen schweizerischen Rechts, adressiert, wird bei gewissen Banken die Zahlung automatisch an den Absender retourniert. Petitionen und parlamentarische Vorstöße helfen nichts. Die Regierung deckt dieses Gebahren und begründet es regelmäßig mit der Handels- und Gewerbefreiheit, die es ihr nicht erlaube, Einfluss auf die Geschäftstätigkeit privater Firmen zu nehmen. Sie unternimmt aber auch nichts bei staatlichen Banken, die unter ihrer Regie oder jener von Kantonsregierungen geschäften.3
In der Ukraine-Krise hat die Schweizer Regierung auf die seit dem Beitritt zu Partnership for Peace in den neunziger Jahren zu beobachtende kontinuierliche Aufweichung der Neutralität mit der sofortigen Übernahme der EU-Sanktionen für Russland noch einen draufgesetzt. Und gerade diese Woche wurden sie trotz allen negativen Erfahrungen und Auswirkungen für die eigene Wirtschaft ein weiteres Mal verschärft. Das diplomatische Unvermögen der Eidgenossenschaft hat sich im Verlaufe der Ukraine-Krise bis zur Kabarettreife gesteigert, gespickt mit einem Gipfel an Peinlichkeiten. Man denke etwa an den komischen Zirkus, den die Schweiz letztes Jahr mit einer „Friedenskonferenz” auf dem Bürgenstock geboten hat.
Man fragt sich, wo die so vielgerühmte Schweizer Diplomatie geblieben ist, die in der Vergangenheit doch beachtliche Erfolge in der Vermittlung bei Konflikten erzielen konnte, angefangen beim Koreakrieg, über den Algerienkrieg bis zum Georgienkrieg, ja auch noch bei den Minsker Abkommen, die in der Umsetzung dann verraten wurden. Man spricht in Bundes-Bern von einem Exodus im Diplomatischen Dienst, weil geschulte Diplomaten nicht mehr zuschauen konnten, wie die Exekutive, die momentan in Bern am Werk ist, das diplomatische Eins-mal-Eins völlig ausser Acht lässt. Es gehörte vordem zum Prinzip schweizerischer Neutralitätspolitik, dass sie von persönlichen Emotionen und Sympathien für eine der Konfliktparteien völlig getrennt werden muss. Etwas, was die drauflos wurstelnden Regierungsmitglieder nicht zu kennen scheinen.
Die Amateurdiplomaten in der Regierung haben übersehen, dass eine Verpackungsaufschrift «Wir sind neutral!» nicht ausreicht. Die Anerkennung seiner Neutralität muss sich ein Staat durch Glaubwürdigkeit erarbeiten. Und noch etwas zeigt sich: Für einen Staat, dessen Neutralität nicht mehr glaubwürdig ist, wird es schwierig, souverän zu handeln. Das erlebt die Schweiz im gegenwärtigen Zollkrieg auf krasse Weise: Sie wird nicht mehr für voll genommen. Die ganze vasallische Unterordnung unter das Imperium hat ihr in diesem Fall überhaupt nichts genützt.
Die Neutralität ist der Schweiz 1815 vom Wiener Kongress als Preis für ihre Überleben als eigenständiges Staatswesen verordnet worden. Mit der Zeit hat man die Neutralität als Mittel, die Souveränität des Landes zu behaupten und es aus Konflikten herauszuhalten, schätzen gelernt — auch wenn es sich dabei nicht nur um eine Ruhmesgeschichte handelt. Die Neutralität entwickelte sich zu einer Art Staatsraison, die bis vor kurzem völlig unbestritten schien und es im Volk mehrheitlich wohl auch heute noch ist. Der Umstand jedoch, dass Neutralität in der Bundesverfassung gar nicht direkt festgeschrieben ist, hat es der Classe politique leicht gemacht, sie zu durchlöchern und schleichend, ohne den Souverän zu fragen, Stück für Stück aufzuweichen. Das soll sich nun ändern. Seit mehr als einem Jahr liegt auf der Bundeskanzlei in Bern ein Volksbegehren für eine Verfassungsrevision. Dieses verlangt die Aufnahme von 4 neuen Artikeln in die Bundesverfassung4, die im Wesentlichen festlegen, dass die Schweiz «immerwährend neutral» ist und diesen Status bewaffnet verteidigt. Ferner soll die Schweiz keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis beitreten dürfen. Die Reform würde es der Schweiz verbieten, sich an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten zu beteiligen und nichtmilitärische Zwangsmassnahme gegen kriegführende Staaten zu ergreifen. Die Regierung könnte also mit den neuen Artikeln keine Sanktionen mehr ergreifen, sofern sie nicht auf einen UNO-Beschluss zurückgehen. Schliesslich trägt einer der neuen Artikel der Schweiz noch auf, ihre Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten zu benutzen und als Vermittlerin zur Verfügung zu stehen.
Es steht noch nicht fest, wann diese Volksinitiative zur Abstimmung gelangt. Die Regierung wollte sie zuerst so rasch als möglich vom Tisch haben und hatte einen Abstimmungstermin noch dieses Jahr angepeilt. Inzwischen ist aber 2025 kein Termin mehr frei. Man dürfte also mit einem Abstimmungstermin 2026 rechnen.
Die Kampagne für die Volksinitiative wird breit abgestützt sein. Der sozialdemokratisch-grüne Mainstream hatte zuerst mit allen Mitteln versucht, die Initiative als «rechts» zu stigmatisieren, wovon gefälligst Abstand zu nehmen sei, wenn man da nicht dazu gezählt werden will. In der gouvernementalen Linken ist man sich wohl bewusst, dass die Neutralität bei weitem nicht nur im konservativen Lager ein populäres Anliegen ist. Sozialdemokraten gehören wie die Grünen zum Entsetzen vieler ihrer Wähler nicht nur zu den eifrigsten Verfechtern der Russland-Sanktionen, sondern sind auch stramm auf Nato- und EU-Linie, in nicht wenigen Fällen auch ausgesprochen auf Kriegs- und Waffenlieferungskurs. Hier wird die Neutralitäts-Initiative ein willkommenes Mittel sein, ein Gegenzeichen zu setzen.
Tatsächlich hatte bei der Lancierung des Neutralitäts-Volksbegehrens die national-konservative Schweizerische Volkspartei eine nicht unbedeutende Rolle gespielt, vor allem logistisch. Aber die Volksinitiative wird von einem Komitee mit breitem politischen Spektrum getragen. Bereits in der Phase des Unterschriftensammelns hatte sich für die Volksinitiative ein Unterstützungskomitee4 von Meinungsträgern aus dem nichtbürgerlichen Lager gebildet, das nun auch für die Abstimmungskampagne aktiv werden wird. Zudem sind antiimperialistische Parteien und Organisationen dabei, ein weiteres Kampagnenkomitee zugunsten der Neutralitäts-Initiative zu bilden. Es scheint also zu gelingen, für die Verteidigung der Neutralität eine breite Phalanx von Kräften zu bilden, die sonst wenig politische Gemeinsamkeit haben. Differenziert ist auch die inhaltliche Auslegung des Neutralitätsbegriffs. Nichtbürgerliche Neutralitätsverfechter argumentieren eher rational und erwarten eine aktive, international ausgerichtete Neutralitätspolitik zur Konfliktvermeidung, wozu auch ausgeglichene internationale Beziehungen gehören, zum Beispiel zu den BRICS. National-konservative Hüter der Neutralität dagegen verbinden mit ihr oft einen Mythos mit historisch nicht haltbaren Begründungen und predigen dazu noch den Isolationismus des Landes. Trotz den unterschiedlichen Ansichten zur Neutralität gilt es nun, mit einer gemeinsamen Anstrengung den Grundsatz der Neutralität in die Verfassung zu bringen.
Der Vollständigkeit halber sei noch kurz darauf hingewiesen, dass die Verankerung der Neutralität in der Verfassung nicht der einzige politische Kampf ist, der in nächster Zeit zur Verteidigung der schweizerischen Souveränität geführt werden muss. Diese wird auch von der EU substanziell bedroht. Die Europäische Union will sich nicht mehr mit dem bisherigen Bilateralen Vertrag, der dem Land den Zugang zum europäischen Binnenmarkt ermöglicht, zufrieden geben. Brüssel ist namentlich die bisher geltende Einschränkung der Personenfreizügigkeit durch sogenannte Flankierende Massnahmen ein Dorn im Auge. Ausländische Firmen, die zur Ausführung von Aufträgen für Schweizer Kunden Arbeitskräfte in die Schweiz entsenden, sind bis jetzt über ein Meldesystem zur Zahlung von Löhnen nach einheimischen Kollektiv-Arbeitsverträgen verpflichtet. Der von der Regierung ratifizierte, aber vom Souverän noch nicht abgesegnete neue Rahmenvertrag sieht die endgültige Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs bei Streitigkeiten vor. Das hätte unweigerlich zur Folge, dass unter Umständen Volksentscheide aller Ebenen, die mit EU-Recht im Widerspruch stehen, vom EuGH kassiert werden könnten. Die allgemeine Kritik an dem, was die Schweizer Behörden mit der EU ausgehandelt haben, ist von allen Seiten massiv. Die Regierung versucht denn auch schon, durch Manipulation ein Obligatorisches Referendum zu umgehen. Das würde heissen, dass für eine Abstimmung über den Vertrag nur das einfache Volksmehr notwendig wäre, nicht aber zusätzlich eine risikobehaftete Mehrheit der zustimmenden Kantone. Vor allem aber würde der Vertrag nicht automatisch zur Abstimmung gelangen; vielmehr müssten auf der Strasse innerhalb dreier Monate die dazu notwendigen Unterschriften gesammelt werden. Dieser Trickserei der Regierung dürfte jedoch kein Erfolg beschieden sein. Der Ruf nach einer obligatorischen, das heisst automatisch eingeleiteten Volksabstimmung wird immer stärker. Könnte sein, dass die Regierung mit diesem Manipulationsversuch das Spiel schon verloren hat. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Exkeutive mit solchen Spielchen den Unmut der Bürger hervorgerufen und in der Folge der Abstimmung kläglich Schiffbruch erlitten hat.
Es ging hier in diesen Ausführungen um die Verteidigung der Neutralität, mit der Kleinstaaten ein bewährtes und historisch erprobtes Mittel zur Verfügung steht, um sich ein Maximum an Souveränität sichern zu können. Kann die kleinstaatliche Neutralität vielleicht für Grossstaaten ein Vorbild sein, wie es zurzeit für Deutschland diskutiert wird? Angedacht war so etwas nach dem Zweiten Weltkrieg durch sowjetische Vorschläge für ein neutralisiertes Deutschland, was von den Angelsachsen mit Bedacht torpediert wurde. Aber war das die Art von Neutralität, wie wir sie bei Kleinstaaten kennen? Ging es da nicht eher um Blockfreiheit (was nicht das Gleiche ist)? Wenn dem so ist, muss in den grossen europäischen Staaten wohl, bevor von Neutralität geredet werden kann, der Austritt aus Militärblöcken und supranationalen Staatsverbänden als erstes zur Diskussion stehen.
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1 „Zeitgeschehen im Fokus” Nr. 11/2025
2 Der neue Staatssekretär für Sicherheitspolitik ist Nato-nah und gegen Neutralität
und Der Putsch der Nato gegen die Schweizer Diplomatie
3 „Schweizer Banken gegen Kuba – Chronik eines amtlich beglaubigten Skandals”, herausgegeben von Vereinigung Schweiz-Cuba und mediCuba
4 Aufruf von Linken und Grünen: Ja zur Neutralitätsinitiative!
5 Unterschriftenbogen für die Volksinitiative mit dem genauen Initiativtext
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Die Ausführungen wurden in Győr etwas verkürzt vorgetragen.