Perspektiven des Freidenkertums (Rotterdamer Erklärung 1974)

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Weltunion der Freidenker

In Anwendung der Erklärung von 1904 auf die heutige Weltlage und auf die künftige Freidenkerarbeit erklärt die Weltunion der Freidenker:

I. Im letzten Drittel des XX. Jahrhunderts steht die Menschheit mitten in der tiefsten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umwälzung ihrer Geschichte. Großartige Fortschritte in Forschung, Technik und Gesellschaftswissenschaften beweisen die fast unbegrenzten Fähigkeiten und Möglichkeiten der Menschen. Tiefgreifende Veränderungen und Erschütterungen gesellschaftlicher Strukturen und Machtverhältnisse als Ergebnis menschlichen Handelns haben Millionen zu bewussten Baumeistern ihres eigenen Lebens gemacht. Täglich werden neue Millionen in diesen Prozess des bewussten Kampfes um die Zukunft hineingezogen. Zunächst spontan, dann immer mehr fundiert und wissenschaftlich gesichert, erkennen Menschenmassen ihre eigene Kraft, ihre Fähigkeiten und ihre Möglichkeiten. Sie liefern täglich Beweise für einen neuen Humanismus der Tat. Unter den Hammerschlägen neuer Entwicklungen und Perspektiven verlieren Aberglaube, Mystizismus, spekulatives Denken und Hoffnungen immer mehr ihre Daseinsberechtigung.

Trotzdem ist die Entwicklung der Menschheit kein Selbstlauf. Die Umwälzungen in Forschung und Gesellschaft erfordern immer mehr ein höheres Weltbild und Weltverständnis. Die Notwendigkeit bewusster Planung gesellschaftlicher Prozesse selbst in Ländern des Spätkapitalismus macht die Entwicklung und den Ausbau eines stärkeren systemkritischen Denkens sowie die Freisetzung aller menschlichen Fähigkeiten und Talente zu einer Lebensnotwendigkeit. Das setzt die entschiedene Zurückdrängung aller Erscheinungen einer an außerirdische Mächte gebundenen fatalistischen Schicksalsbezogenzeit, aller Theorien des „wissenschaftlich fundierten“ Aberglaubens und die Erniedrigung des wissenschaftlichen Fortschritts auf göttliche Weltpläne oder überirdische Eingriffe in die Geschichte der Menschheit voraus. Nichts war in der Geschichte der Menschheit ein Geschenk des Himmels, alles mussten sich die Menschen erarbeiten und erkämpfen, oft unter größten Opfern.

II. Das alles beeinflusst tief die Welt, in der die Freidenkerbewegung lebt und arbeitet. Sie ist eine kulturpolitische Bewegung auf internationaler Ebene und in nationalen Sektionen für gesicherten Frieden, für reale Demokratie und einen voll entfalteten Humanismus. Dieser Humanismus wird nicht einfach proklamiert, sondern verwirklicht sich im täglichen Kampf der Menschen.

Voll entfalteter Humanismus ist nicht möglich, solange das Sondereigentum an den Brot- und Lebensquellen die arbeitenden Menschen von der Verfügung über ihre eigenen Lebensgrundlagen ausschließt.

Voll entfalteter Humanismus ist nicht möglich, solange das Streben nach höchstmöglichem persönlichen Gewinn der Sondereigentümer alle zwischenmenschlichen Beziehungen vergiftet und letztlich sogar zur Quelle von Kriegen wird. Dass zu deren Vorbereitungen die Demokratie ständig angegriffen und eingeschränkt wird, hat die jüngste Geschichte bewiesen. Faschismus, II. Weltkrieg und Vietnam bleiben als ständige Mahnung und Verpflichtung.

Voll entfalteter Humanismus ist nicht möglich, solange einige Millionäre den vielen Millionen die Kontrolle über die Massenmedien vorenthalten. Aus Profitgründen wird auch die Unterordnung der Kultur unter die eigensüchtigen Interessen der Sondereigentümer vorgenommen.

Deshalb müssen Freidenker klar Partei ergreifen für Frieden, Demokratie und echten Humanismus, für die Freisetzung aller Anlagen und Fähigkeiten der Menschen zum Handeln und zur Lösung dieser Perspektiven. Darum kann die Feidenkerbewegung politisch nicht neutral, muss aber parteipolitisch unabhängig sein.

Deshalb muss sie klar Stellung beziehen gegen alle Versuche der Unterdrückung, der Manipulation, geistiger Knechtung und Entmündigung in alten und neuen Formen.

III. Weil über zeugende Freidenkerarbeit nur in der realen Gesellschaft und auf wissenschaftlich exakter Grundlage entwickelt und geleistet werden kann, ist sie niemals Religionsersatz. Jede Form eines Unfehlbarkeitsanspruchs liegt ihr fern. Positive Freidenkerarbeit ist nicht auf einigen antireligiösen Vorbehalten aufgebaut. Hauptanliegen der Freidenker war, ist und bleibt die Verbreitung eines modernen wissenschaftlichen Weltbildes, um die Menschen immer mehr zur aktiven Bewältigung ihrer eigenen Zukunft zu befähigen.

Da die Freidenker als tätige Humanisten mitten in den größten wissenschaftlichen du gesellschaftlichen Umwälzungen wirken, müssen sie zur Erreichung ihrer Ziele entschieden gegen jede Form des Fatalismus, jeden Glauben an den Selbstlauf der Entwicklung, gegen Faschismus, Rassismus, Nationalismus, Völkerhetze und Kriege, gegen alle Formen der Erniedrigung der Frauen (z.B. Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs), gegen lebensgefährliche Umweltverschmutzung (materieller, moralischer und intellektueller Natur) aus Profitgründen kämpfen. Sie müssen alle Formen des „neuen“ Mystizismus und alle Bindungen an höhere Wesen in den richtigen gesellschaftlichen Rahmen bringen und auf dieser Grundlage bekämpfen.

Deshalb ist es eine entscheidende Aufgabe der Freidenkerarbeit, die wirklichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse an das Tageslicht zu bringen, die Methoden und Formen der Verklärung und Verschleierung des Sondereigentums und seiner gesellschaftlichen Wirkungen zu enthüllen, den politischen Klerikalismus entschieden zu bekämpfen. Die Antiposition der Freidenker zu diesen Erscheinungen ist kein Selbstzweck, sondern logischer Bestandteil der Arbeit bei der Lösung der Hauptaufgabe der Freidenker im Umbruch unserer Zeit – Beseitigung aller gesellschaftlichen Ketten und ihres Heiligenscheins, die der völligen Befreiung der Menschheit im Wege stehen.

IV. Auf der Grundlage der heutigen Verhältnisse und im Lichte der Perspektiven der weiteren Entwicklung ergeben sich die unmittelbaren Ansatzpunkte der Freidenkerarbeit:

Durchsetzung einer modernen Bildungspolitik auf allen Ebenen, einschließlich der Berufsausbildung, die den Erfordernissen unserer Zeit und der Zukunft entspricht. Ausschaltung aller überholter und unwissenschaftlicher Bildungsinhalte und Bildungsziele, von der mystischen Philosophie bis zum Militarismus.

Ringen um die völlige geistige Freiheit und die Heranbildung des mündigen und verantwortlichen Bürgers, uneingeschränkte Trennung von Staat und Kirchen und Schulen und Kirchen.

Kampf gegen alle Formen des Diskriminierung von Menschen aus weltanschaulichen oder rassistischen Gründen, Solidarität mit allen Opfern jeder Gewaltpolitik.

Für Geburtenkontrolle, Geburtenplanung und Recht auf Schwangerschaftsabbruch.

Unterstellung der Massenmedien und aller gesellschaftlichen Voraussetzungen der Kultur unter die Kontrolle des Volkes bzw. der Völker.

Verwirklichung der vollen Mitbestimmung des Volkes in allen Bereichen von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.

Teilnahme an allen Bestrebungen zur Sicherung des Friedens, der Abrüstung und Ausschaltung des Militarismus und der Gewalt aus dem Leben der Völker – Entlarvung aller Bestrebungen, dem Krieg eine göttliche Legitimation zu verleihen.

Widerstand gegen alle Versuche, die Ergebnisse von Wissenschaft, Forschung und Technik den eigensüchtigen Interessen der Sondereigentümer unterzuordnen.

Verbreitung einer humanistischen und wissenschaftlichen Weltanschauung in der täglichen Auseinandersetzung mit allen Formen des Aberglaubens, des Fatalismus und des Mystizismus.

Kriterium für eine humanistische und wissenschaftliche Weltanschauung kann nur sein, dass sie den Realitäten in ihrer Entwicklung entsprechen muss, dass sie aus den Realitäten abgeleitet wird und nicht umgekehrt, dass sie die tägliche praktische Tätigkeit der Menschen nicht hemmen, sondern fördern muss, dass sie Gegenwart und Zukunft nicht nur erklärt, sondern diese Welt für die Menschen verändern hilft.

Dabei sind Freidenker zur Zusammenarbeit und Bündnis mit jedem bereit, der gleiche oder ähnliche Ziele vertritt, unabhängig von den persönlichen Motiven.

Der Dialog ist nach Meinung der Freidenker möglich und notwendig bei offener Konfrontation (statt Verwischung) weltanschaulicher Ideen und Meinungen zum Zwecke der praktischen Zusammenarbeit und Aktion für eine friedliche, demokratische und humane Gestaltung der Zukunft der ganzen Menschheit. Freidenkerarbeit sollte den Menschen Gelegenheit geben, sich an Hand der eigenen Erfahrung von der Richtigkeit bestimmter Auffassung zu überzeugen.

Wer zum überzeugenden Kämpfer für die Zukunft des Menschen werden will – wer Schwierigkeiten und Rückschläge dabei nicht scheuen will – wer mit an der Spitze des allgemeinen Fortschritts marschieren will – der braucht ein klares weltanschauliches Fundament. Daran arbeiten die Freidenker heute, morgen und übermorgen, dass der Mensch sich zum Menschen erhebe und nie mehr im Staub kriechen will, dass der Mensch überall zum Maß der Dinge wird!

Rotterdam, den 6. Oktober 1974

Quelle: Joachim Kahl und Erich Wernig (Hrsg.) Freidenker – Geschichte und Gegenwart; Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1981 (Kleine Bibliothek, Band 214),  broschiert 204 Seiten; ISBN 3-7609-0611-7, Seite 167 – 170