Schweiz: Laizität mehr durch christlichen als durch islamischen Fundamentalismus bedroht

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Peter Berger. Referat am Kongress vom 14. September 2019 in Esch s. A.

In der Schweiz leben heute mehr als 2 Millionen Menschen ohne Schweizer Pass. Das entspricht fast einem Viertel der Gesamtbevölkerung. Die beiden grössten Kontingente an Einwanderern stellen die Nachbarländer Deutschland und Italien mit je 15 Prozent. Mit knapp 13 Prozent folgen aber bereits die Portugiesen als drittgrösste Gruppe. Aus Frankreich kommen rund 6 Prozent. Eine auffallend grosse Gruppe machen mit über 5 Prozent die Kosovaren aus, die in der Statistik separat ausgewiesen sind, da die Schweiz zu den Staaten zählt, welche dieses EU-Protektorat anerkennen. Einwanderer mit spanischem Pass machen knapp 4 Prozent aus, und dann sind noch Serbien (ohne Kosovo) und Mazedonien mit je gut 3 Prozent erwähnenswert. 80 Prozent der ausländischen Wohnbevölkerung kommen vom europäischen Kontinent.

Der vergleichsweise hohe Ausländeranteil in der Schweiz hat auch mit dem sehr restriktiven Einbürgerungsprozess zu tun. Es ist nicht einfach, das Schweizer Bürgerrecht zu erhalten. Die Einbürgerungsrate der Schweiz liegt weit unter dem europäischen Durchschnitt. Ein Kind von Ausländern, das in der Schweiz geboren wird, erhält zudem nicht automatisch die Staatsbürgerschaft, wie das andernorts der Fall ist. 40 Prozent der in der Schweiz lebenden Ausländerinnen und Ausländer wurden in der Schweiz geboren oder leben seit über 20 Jahren im Land. Vorstösse für eine erleichterte Einbürgerung erleiden in den Referenden regelmässig Schiffbruch. Ein sehr grosser Teil der laut Statistik ausländischen Wohnbevölkerung ist also schon in zweiter oder dritter Generation im Land aufgewachsen und kann schon deshalb zwar als voll assimiliert gelten. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schweiz, was die staatsbürgerlichen Rechte betrifft, zusehends zu einer Apartheidsgesellschaft wird.

Migrantische Parallelgesellschaften oder Ghettobildungen, wie sie in andern Ländern vorkommen sollen, gibt es in der Schweiz so nicht. Da mag auch die bis jetzt noch relativ geringe Segregation in den Siedlungsstrukturen und die Kleinräumigkeit mit ein Grund sein. Dazu kommt die Lage der Schweiz an der Schnittstelle dreier Kulturräume. Sie hat zur Folge, dass zumindest die Migrantinnen und Migranten aus den Nachbarländern meist keine Sprachbarrieren zu überwinden haben, da sie sich vorzugsweise im jeweiligen Sprachgebiet ansiedeln. Ausserdem betrifft die Migration – im Unterschied zu den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts – bei weitem nicht nur unqualifizierte Arbeitsplätze. Aus den EU-Ländern, vor allem aus Deutschland und Frankreich, vermehrt auch aus Südeuropa, wandern überwiegend gut- oder hochqualifizierte Menschen zu.

Der Lohndruck durch Migration aus der EU wird gedämpft durch sogenannte «flankierende Massnahmen», die Teil der bilateralen Verträge mit der EU über die Personenfreizügigkeit sind. Sie sollen Lohndumping verhindern und dafür sorgen, dass alle, die in der Schweiz arbeiten, auch zu Schweizer Bedingungen arbeiten. Derzeit stehen diese flankierenden Massnahmen unter Druck seitens der EU.

Trotz diesen insgesamt guten Voraussetzungen für die Integration von Migrantinnen und Migranten gibt es Defizite und Diskriminierung. Schliesslich gibt es in der Schweiz schon seit den siebziger Jahren rechtsnationale Parteien, die latenten Fremdenhass bewirtschaften. Dazu gehören Versuche, in der Sozialgesetzgebung das Gleichheitsprinzip zu verletzen und Inländer zu privilegieren. Das konnte bis jetzt verhindert werden. Bedenklicher sieht es dagegen im Strafrecht sowie in dem von Repression der Behörden bestimmten Alltag aus.

Diskriminierend sind zuweilen auch Volksabstimmungen, wie etwa die 2009 von 57 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger unterstützte Verfassungsinitiative für ein Verbot von Minaretten. Diese aus dem islamophoben Umfeld der nationalistischen Rechten lancierte Volksinitiative verfolgte selbstverständlich keinen emanzipatorischen Beitrag zur Trennung von Staat und Religion, sondern war rein auf die Diskriminierung der Muslime angelegt. Es ist allerdings festzustellen, dass ähnliche Diskriminierungen im innerchristlichen Verhältnis der Konfessionen auch noch im 21. Jahrhundert gang und gäbe sind. In traditionell reformierten Kantonen, zum Beispiel ausgeprägt im Kanton Zürich, sorgen baurechtliche Vorgaben im Zusammenhang mit dem Ortsbildschutz dafür, dass katholische Kirchen nicht über einen echten Glockenturm verfügen. Denn zur traditionellen Silhouette einer Zürcher Landgemeinde darf offenbar nur ein reformierter Kirchturm gehören – auch wenn durch die Binnenwanderung und die Migration aus Südeuropa die Anteile der beiden Konfessionen mehr oder weniger ausgeglichen sind …

Nun zur Frage der Auswirkungen der Migration auf die Bestrebungen für einen laizistischen Staat. Dazu noch eine Vorbemerkung: In der Schweiz wird der Begriff «Laizität» nicht so streng ausgelegt wie etwa in Frankreich. Das zeigt etwa der Fall des Kantons Neuenburg – neben Genf einer der beiden Kantone, in denen Staat und Kirche getrennt sind. In seiner Kantonsverfassung ist die Trennung von Staat und Kirche wie auch seine Laizität explizit festgehalten. Es steht da: »Der Kanton Neuenburg ist eine demokratische, laizistische und soziale Republik …«. Und an anderer Stelle: »Der Staat ist von den Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften getrennt …« Dann folgt aber noch ein zweiter Satz: »Er kann sie gleichwohl als Einrichtungen öffentlichen Interesses anerkennen.« Und 2 Artikel weiter unten: »Die Dienste, welche die anerkannten Kirchen gegenüber der Allgemeinheit leisten, berechtigen zu einer finanziellen Beteiligung des Staates und der Gemeinden.« Im Budget der Republik stehen dazu insgesamt mehr als 1,5 Mio. Franken zur Verfügung. Das ist also »Laizität à la Suisse«. Unter Laizität wird in der Schweiz eher eine Art staatliche Neutralität gegenüber Religionen verstanden als eine laizistische Haltung im emanzipatorischen Sinne.

Diese Neutralität drückt sich in Gerichtsentscheiden aus, die im Laufe der letzten 30 Jahre zum Thema Laizität gefällt wurden. Zum Beispiel zur Frage der Präsenz eines Kreuzes in Schulzimmern. Hier hat das Bundesgericht entschieden, dass die Präsenz eines Kruzifixes in Schulzimmern nicht zulässig ist, da es als Bindung der in diesem Falle öffentlichen Schule an eine bestimmte Religion interpretiert werden könnte. Auch könne die Präsenz eines solchen religiösen Symboles im Unterrichtsraum die religiösen Überzeugungen nicht christlicher Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Eltern beeinträchtigen. Der Konflikt hatte sich entzündet, als der Gemeinderat von Cadro (Kanton Tessin) anordnete, dass in jedem Klassenzimmer der Schule ein Kruzifix anzubringen sei. Ein Lehrer der Schule machte darauf Beschwerde beim Tessiner Verwaltungsgericht, das in der Folge die Anordnung der Gemeinde aufhob, wogegen diese dann ihrerseits Beschwerde beim Bundesgericht erhob. Das Bundesgericht hielt bei der Ablehnung der Beschwerde ausdrücklich fest, dass es nur bezüglich der Kruzifixe in Unterrichtsräumen zu entscheiden hatte, damit aber nichts ausgesagt sei, wie weit religiöse Symbole in anderen öffentlichen Gebäuden (Gefängnissen, Gerichte oder an Schulen ausserhalb von Unterrichtsräumen) zulässig sind. Diese Frage ist also nach wie vor offen; man wartet auf eine Klage eines oder einer Betroffenen.

Ebenfalls die Schule betreffen Gerichtsentscheide über das Tragen muslimischer Kopftücher und Gesichtsverhüllungen. Hier wird in der Rechtsprechung ein Unterschied zwischen Schülerinnen und Lehrpersonal gemacht. 1997 stützte das Bundesgericht einen Entscheid der Genfer Schulbehörden, einer zum Islam konvertierten Volksschullehrerin, die ihr Kopftuch nicht ablegen wollte, zu kündigen. 2015 befand das Bundesgericht, dass ein von einer Schulgemeinde im Kanton St.Gallen gegenüber einem muslimischen Mädchen ausgesprochenes Verbot, das islamische Kopftuch zu tragen, mit dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht vereinbar sei.

Konflikte ergeben sich immer wieder in Fragen der Dispensation von obligatorischen Schulfächern aus religiösen Gründen zum Beispiel über die Teilnahme muslimischer Schulmädchen am obligatorischen Schwimmunterricht. In dieser Frage wurde sogar an den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte appelliert. Der EGMR teilt in einem einstimmig gefällten Entscheid die Auffassung des Schweizer Bundesgerichts, das 2008 seine Rechtsprechung verschärft hatte und Dispensationen von obligatorischen Schulfächern wegen religiöser Motive grundsätzlich ablehnt.

Nimmt man die Rechtsprechung in den obigen Fällen zum Massstab, gibt es kaum einen Anhaltspunkt, dass sich die Migration in rechtlicher Hinsicht negativ auf das Gleichheitsprinzip oder für die Laizität ausgewirkt hat. Wie sieht es aber im gesellschaftlichen Diskurs aus? Woher kommen die Kräfte, die öffentlich laizistische Errungenschaften offensiv bekämpfen, die sich für ein Abtreibungsverbot, gegen ein Verbot von Konversionstherapien, für Kreationismus usw. aussprechen? Und dabei immer militanter agieren. Das zeigt sich unter anderem gerade an diesem Samstag, wenn wie jedes Jahr um diese Zeit in Zürich eine Grossdemonstration unter dem Motto «Marsch fürs Läbe» für ein Abtreibungsverbot stattfindet. Hinter der Veranstaltung steht eine katholisch-evangelikale Achse, die vom Opus Dei bis zu den ominösen «Christen für die Wahrheit» reicht und politisch eng verbandelt ist mit der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei.

Auf der andern Seite verhalten sich politische Kräfte aus dem liberalen oder sozialdemokratischen Spektrum, die traditionell sich eher zu den säkularen Kräften zählten, zusehends indifferenter in Fragen des Laizismus oder unberechtigter Privilegien der Kirchen. Man möchte es mit Rücksicht auf ein gewisses Stimmenreservoir mit den Kirchen nicht verderben.

Fazit: In der Schweiz ist das, was an Laizität vorhanden ist, einerseits bedroht durch die Gleichgültigkeit und den Opportunismus sich als säklular verstehender gesellschaftlicher Gruppen. Anderseits droht ihr grosse Gefahr vor allem durch Fundamentalismus, dabei aber sehr viel mehr durch den christlichen Fundamentalismus als durch den islamischen. Auch wenn unter den beiden Gruppen, was ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen betrifft, inhaltlich weitgehend Übereinstimmung herrscht, ist vorläufig wenigstens keine Koalition zu befürchten; dem steht die verbreitete Islamophobie unter Evangelikalen im Wege. Man könnte sagen: Der laizistischen Gesellschaft droht weit mehr Gefahr von der christlichen Scharia als von der islamischen…

Quellen:
Swissinfo.ch: »Wer sind die 2 Millionen Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz?«, 13.11.2017
Swissinfo.ch: »Die verschiedenen Gesichter der Einwanderung in Europa«, 5.12.2017
»Getragene und an Bauten angebrachte religiöse Zeichen und Symbole«, Bericht des Bundesrates der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 9. Juni 2017
Info-Sperber: »Die katholisch-evangelikale Achse für ,Meinungsfreiheit’«, 22.4.2018